Arbeitsgemeinschaft Weinheimer Initiative

Die Arbeitsgemeinschaft Weinheimer Initiative ist ein Zusammenschluss von über 20 Städten und Landkreisen und zahlreichen weiteren Akteuren. Sie steht für Konzept und Praxis Kommunaler Koordinierung bei der Gestaltung der Übergänge Schule – Arbeitswelt „vor Ort“.  Die Arbeitsgemeinschaft sieht für sich zwei zentrale, miteinander eng verbundene Aufgaben: sich „anwaltschaftlich“ für die Anerkennung von Kommunaler Koordinierung und gute und förderliche Rahmenbedingungen einzusetzen, und die fortlaufende Verbesserung der lokalen Praxis zu unterstützen.

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Hoyerswerdaer Erklärung 2011

Hoyerswerda, 28.02.2011

Das Schwerpunktthema des diesjährigen Jahresforums lautet Lehrstück Übergang.

Nachdem in den letzten Jahren vor allem die Vorbereitung auf den Übergang von der Schule in die Arbeitswelt und ein abgestimmtes und wirksames Handeln im unmittelbaren Übergangsgeschehen Schwerpunkte der Jahresforen waren, wird nun der Übergang als Erfahrungsprozess von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ins Zentrum der gemeinsamen Aufmerksamkeit gerückt.

Der Übergang in die Arbeitswelt macht nicht nur jenen zu schaffen, die üblicher Weise als „Benachteiligte“ bezeichnet werden, sondern der Bedeutungsverlust sogenannter „Königswege“ in Arbeit und Erwachsenenleben macht für alle die Übergänge schwieriger, wenngleich unterschiedlich risikoreich. Die häufig damit einher gehende Verlängerung der Periode bis zur einigermaßen gesicherten Ankunft im Beschäftigungssystem vergrößert das biografische Gewicht
der Übergangsphase, in der es für die jungen Erwachsenen zugleich unmittelbar um eigenverantwortliche Lebensgestaltung geht. Im weiteren Sinne ruft das Jahresforum 2011 also den Übergang nicht nur als Schritt von der Schule in die Arbeitswelt, sondern als Einstieg in das Erwachsenenleben auf.

Die „Hoyerswerdaer Erklärung“ als diesjährige „Botschaft“ der Arbeitsgemeinschaft Weinheimer Initiative richtet sich an diejenigen, die vor Ort ganz konkret im Übergangsgeschehen arbeiten und auf diese Weise nahe bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind, um die es geht.

Darüber hinaus richtet sie sich an diejenigen, die in Ministerien, Stiftungen und Rathäusern durch Förderprogramme, Richtlinien und Rahmenaussagen die „Philosophie“ der Übergangsgestaltung stark beeinflussen.

Gerade dort, wo man sich aktiv und intensiv auf die Schwierigkeiten des Übergangs einlässt, werden die Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Übergang häufig vor allem als Adressaten von Maßnahmen betrachtet. Das „Jahresforum 2011“ wird ihnen auch als Subjekte des Übergangs Geltung und Aufmerksamkeit verschaffen. Im Zentrum des Übergangsgeschehens sieht die Arbeitsgemeinschaft junge Erwachsene, die mit der Entscheidung für einen beruflichen Weg oder einen Bildungskorridor eine zentrale Weichenstellung in ihrer eigenständigen
Lebensplanung vornehmen. Entscheidungen setzen dabei wählbare Optionen und Entscheidungsfähigkeit und eine persönliche Situation der Entscheidungsfindung ohne Nötigung voraus.

Die Arbeitsgemeinschaft „Weinheimer Initiative“, die kommunale Verantwortungsübernahme bei der Gestaltung des Übergangs Schule-Arbeitswelt vertritt, sieht den jungen Erwachsenen als Subjekt des Übergangsgeschehens nicht nur als künftigen Auszubildenden oder Arbeitnehmer, sondern ganz wesentlich auch als junge Mitbürgerin bzw. als jungen Mitbürger. Die Erfahrungen, die die jungen Erwachsenen im Übergang machen, sind von daher zugleich und
ganz wesentlich auch als Erfahrungen mit unserer Gesellschaft und ihren Umgang mit zentralen Werten zu verstehen. Der Umgang mit den jungen Menschen im Übergang muss deshalb von Anbeginn an und durchgehend durch Respekt vor ihrer eigenständigen Persönlichkeit und durch Solidarität geprägt sein.

Respekt und Wertschätzung übersetzen sich im Übergangsgeschehen vor allem darin, ein realistisches Bild des Arbeitslebens und der in ihm vorhandenen Perspektiven erfahrbar zu machen und zu vermitteln und den jungen Leuten deren eigene Startbedingungen und Voraussetzungen und deren Optimierungsmöglichkeiten kritisch zu spiegeln, ohne sie zu bedrängen,
zu nötigen oder in Panik zu versetzen. Sich Ausprobieren schließt ein, dass Entscheidungen auch ohne unangemessene persönliche Kosten revidierbar sein müssen.

Die Arbeitsgemeinschaft geht davon aus, dass es angesichts der raschen und dynamischen Wandlungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft weder den „Königsweg“ in das Arbeitsleben gibt, noch es sinnvoll und legitim wäre, bestimmte Wege sozialen Gruppen von jungen Leuten – z.B. aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder aufgrund ihrer offiziellen schulischen Leistungsprofile – besonders nahezulegen.

Weder die Vorstellung, dass manchen Jugendlichen lediglich noch die Disziplin betrieblicher Arbeit helfen könne, noch die Idee von der „Passgenauigkeit“ sind vor diesem Hintergrund wirklich tragfähig. Auch die die Formel, dass „Jeder Ausbildungsplatz besser als keiner“ sei oder der ungefragte Vorrang „Dualer“ vor jeder anderen Form der Berufsbildung ist in dieser Allgemeinheit zweifelhaft. Zentraler Bezugspunkt müssen die Interessen und Fähigkeiten und die eigenen Lebensentwürfe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen bleiben.
An dieser Stelle sei auch auf die entsprechenden Passagen „Weinheimer Erklärung“ verwiesen.

Heute sind wir von der Gleichwertigkeit der verschiedenen Wege ins Arbeitsleben noch weit entfernt. Sie wäre besser gewährleistet, wenn die Zugangschancen zu den verschiedenen Wegen in die Arbeits- und Erwachsenenwelt sozial weniger selektiv wären, ihre jeweilige Qualität die Optionsmöglichkeiten der Lernenden erweitern würden und, wenn sich einmal getroffene Wegeentscheidungen mit vertretbarem Aufwand korrigieren ließen.

Die Arbeitswelt steht den heutigen Generationen junger Leute fremder und weniger selbstverständlich gegenüber als ihren Eltern und Großeltern. Der starke Wandel in der Arbeitswelt und die im vergangenen Jahrzehnt massiv aufgetretenen Turbulenzen auf dem Arbeitsmarkt führen auch dazu, dass es in der alltäglichen Lebenswelt der jungen Leute bei der Vorbereitung auf den Übergang nicht mehr viel Anschauung dafür gibt, dass Facharbeit attraktiv sein kann, Entwicklungschancen, eine Basis für berufliches Selbstbewusstsein und ein befriedigendes Leben bieten kann. Dies auf eine Art und Weise deutlich und nachvollziehbar zu machen, die jenseits von Hochglanzwerbung ein positives, aber realistisches Bild vermittelt, ist eine dringende Aufgabe der Einrichtungen und Betriebe aus der Arbeitswelt, gerade auch angesichts des entstehenden Fachkräftemangels.

Zu Respekt und Wertschätzung gehört auch ein lebendiges Bewusstsein der Tatsache, dass die heutige Generation Jugendlicher und junger Erwachsener hinsichtlich ihrer familiären Herkunftsgeschichten eine große Vielfalt aufweist. Die Berücksichtigung des Fokus Migration im Übergang Schule-Arbeitswelt bedeutet nicht, den jungen Leuten mit Migrationshintergrund a priori einen Benachteiligtenstatus zuzuschreiben, sondern auf beiden Seiten, also
auch auf Seiten der Arbeitswelt, die Chancen für erfolgreiche Übergänge zu klären.

Eine Annahme ist, dass die heutige moderne Arbeitswelt jungen Leuten mit Migrationshintergrund noch fremder gegenüber steht als dies schon allgemein gilt. Interkulturell sensible Übergangsgestaltung muss demnach davon ausgehen, dass nachvollziehbaren Erklärungen und Begründungen deswegen eine besondere Bedeutung zukommt, weil sich wenig von selbst versteht.

Solidarität übersetzt sich im Übergangsgeschehen vor allem in Vorgänge, die gemeinhin als Fördern oder Aktives Begleiten bezeichnet werden. Angesichts der Schwierigkeiten, die der Übergang allen jungen Leuten heute – in unterschiedlicher Schärfe und Ausprägung – bereitet, besteht eine Neigung, gerade jene, die anscheinend oder tatsächlich besonderes unterstützungsbedürftig sind, „an die Hand zu nehmen“ und die Betreuung immer dichter und lückenloser zu machen; jene, die finanzielle Transferleistungen erhalten, unterliegen zudem einer engen Aufsicht darüber, ob sie getroffene Vereinbarungen einhalten. Insgesamt neigen
Unterstützungssysteme, die aus dem Geist von „Fordern & Fördern“ entstanden sind, zu Formen enger und dichter sozialer Kontrolle. Individuelle Unterstützungen entlang der Übergänge, ihre Verknüpfung und „Verkettung“ können hilfreich sein: Je enger das „Korsett“ für die Betroffenen aber hierbei wird, umso problematischer werden die Wirkungen auf längere Sicht sein, auch, wenn kurzfristig damit Erfolge erreicht werden können. An dieser Stelle muss eine sorgfältige Abwägung verstärkt zum Zuge kommen.


So sehr die Arbeitsgemeinschaft alle Bemühungen begrüßt und unterstützt, sicherzustellen, dass „niemand durchs Netz fällt“, kommt es vor allem darauf an, eine vertretbare Balance zwischen einem sehr nahe bei den Personen und in guter Zugänglichkeit platzierten Förderungs- und Begleitungsangeboten und der Selbständigkeit und Entscheidungsfreiheit junger Erwachsener zu finden.

Die Gefahr, dass Unterstützungsmaßnahmen zu sozialer Nötigung und Kontrolle
hinüberkippen, hat auch mit fortbestehenden Unzulänglichkeiten unserer lokalen Übergangsgestaltung zu tun. Die Vermeidung negativer Effekte für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen macht erforderlich, unseren Blick erneut verstärkt auf die interne Ausstattung und pädagogische Grundlegung unserer lokalen Übergangsgestaltung und auf deren fortschreitende Professionalisierung zu richten. Starkes soziales Engagement kann auch beim Gegenüber ein schlechtes Gewissen, das Gefühl, eine Art unverdienter Zuwendung zu erhalten (oder auch Ablehnung) erzeugen. Demgegenüber geht die Arbeitsgemeinschaft davon
aus, dass junge Bürgerinnen und Bürger ein Recht auf Beratung und Unterstützung haben und dass lokale Übergangsgestaltung nicht Wohltätigkeit, sondern selbstbewusste Dienstleistung für die lokale Gemeinschaft als Ganzes ist.

Zum Ziel einer vertretbaren Balance zwischen Unterstützung & Begleitung und Eigenständigkeit & Eigenverantwortlichkeit junger Erwachsener gehört auch die Anerkennung, dass Berufsorientierung, Berufswahl und die Einmündung in die Arbeitswelt nur ein, wenn auch ein wichtiges Feld, oder eine besonders wichtige Aufgabe, im Leben der jungen Erwachsenen ist. Gerade die zeitliche Ausstreckung des Übergangs und die Unsicherheiten der turbulenten Veränderungen, denen unsere Gesellschaft unterliegt, lassen die Vorstellung, junge Leute
könnten sich unter Zurückstellung aller anderen Lebensaufgaben, die zum Erwachsenwerden und zum jungen Erwachsenenleben gehören, voll auf die Berufsfragen konzentrieren, als pure Illusion erscheinen. Übergangsgestaltung muss deshalb sowohl konzeptionell, als auch in ihren Arrangements und Dienstleistungen berücksichtigen, dass der Übergang von der Schule in die Arbeitswelt einer Lebensphase zugehört, die im umfassenden Sinne Erprobungsfeld
des eigenen selbständigen Lebens ist.

Aus dieser Perspektive heraus muss das lokale Übergangsgeschehen als arbeitsweltnaher Teil des lokalen Bildungssystems verstanden und gestaltet werden. Die Arbeitsgemeinschaft richtet deshalb erweiternd ihren Blick sowohl auf die lokale Bildungslandschaft als auch auf die Qualitäten der lokalen Arbeitswelt.

Heiner Bernhard
Oberbürgermeister der Stadt Weinheim
Sprecher der "Arbeitsgemeinschaft"

Stefan Skora
Oberbürgermeister der Stadt Hoyerswerda
Sprecher der "Arbeitsgemeinschaft"

Dr. Wilfried Kruse
Dortmund
Koordinator der "Arbeitsgemeinschaft"

Hoyerswerda, den 23. Februar 2011